Ein Letztes

Der Tod. Ist er das Ende oder ein Anfang?

Es gibt wohl nur weniges, was die Menschen von Beginn an so beschäftigte, wie der Tod. Er war allgegenwärtig. Wollte man selbst überleben, musste man töten, denn ohne die Jagd wären unsere Vorfahren wohl irgendwann verhungert. Gleichzeitig mussten sie auf der Hut sein, um nicht selbst Beute zu werden. Selbst, wenn sie nicht von Raubtieren gefressen wurden, konnten sie durch einen Unfall, durch Mangel an Nahrung oder durch Krankheiten zutode kommen. Auf der anderen Seite wurden immer wieder Nachkommen geboren und großgezogen. Die Menschen waren also offensichtlich Teil einer ewigen Abfolge von Leben und Sterben, von Werden und Vergehen.

Als sich die intellektuellen Fähigkeiten der Menschen und mit ihnen ihre Sprache entwickelten, stellten sie sich immer öfter auch Fragen nach den verborgenen Gründen für die Geschehnisse um sie herum, nach dem woher und wohin ihres Seins. Woher kam diese Welt mit den Menschen darin und wo blieben die Menschen nach dem Tode? Diese Fragen ließen sich nicht direkt aus den praktischen Erfahrungen ihres Alltags beantworten, und doch waren es diese Erfahrungen, die sie Antworten finden ließen. Eine Erfahrung war, dass ihr Tätigsein Folgen hatte. Steine konnte man zum Beispiel behauen und auf diese Weise ein scharfkantiges Werkzeug erhalten. Entfachte man ein Feuer, wurden Raubtiere ferngehalten und man konnte sich den Rücken wärmen. Es schien also folgerichtig, dass auch für die Erscheinungen in der Natur jemand mit seinem Wirken verantwortlich war. Da man diesen jemand nicht sehen konnte, musste es ein Wesen sein, das außerhalb ihrer Erfahrungswelt stand, eine Gottheit eben. Diese Antwort wie auch die Überlegungen zu vielen anderen Fragen, die sie bewegten, wurden Bestandteil ihrer Anschauungen über die Natur und das Leben. Sie wurden ihre Religion, die sie an die Nachkommen weitergaben.

Eine bei fast allen Völkern zu findende Überzeugung ist, dass ein wie auch immer gestalteter Gott die Welt und die Menschen erschaffen haben musste. Womöglich war ein Gott auch für die Toten zuständig, die unter seiner Ägide an einem Ort existierten, der für die Lebenden nicht zugänglich war. Solch ein Ort konnte sich im Innern der Erde befinden oder in einem unbekannten Gebiet auf deren Oberfläche, vielleicht auch auf der Unterseite der Erdenscheibe oder gar im Himmel. Die Vorstellungen, die zum Wirken der Götter entwickelt wurden, mögen anfangs vage gewesen sein, im Laufe der Zeit wurden jedoch immer mehr Details hinzugefügt, nicht zuletzt, weil auch die Gesellschaften, in denen die Menschen lebten, größer und vielschichtiger wurden. In ihren Gemeinschaften hatte man einzelne Aufgaben Personen übertragen, die sich durch besondere Fähigkeiten und Talente auszeichneten. Es war anzunehmen, dass es auch unter den Göttern eine Arbeitsteilung gab, die man kennen musste, um sich mit seinem Anliegen an den richtigen Gott und in der ihm genehmen Art und Weise zu wenden.

Mit der zunehmenden Vielschichtigkeit der Gesellschaft tauchten auch neue Fragen auf. Eine dieser Fragen war, wie man ins Reich der Toten eingehen würde? Der Körper, wusste man, zerfällt, bis nichts als Erde oder Asche übrig bleibt. Würde man im Reich der Toten ohne Körper sein? Wahrscheinlich war es besser, den Körper zu erhalten, zum Beispiel indem man ihn einbalsamierte. Dann war da die Frage, ob im Reich der Toten alle Menschen gleich sein würden. Für Pharao war das unvorstellbar. Er ließ riesige Grabmäler errichten, die ihm mit ihren Beigaben auch dort, im Reich der Toten, eine besondere Stellung sichern würden. Die Hierarchien mussten im Jenseits erhalten bleiben, sonst könnte man ja fragen, warum sie im Diesseits bestehen. Für die Bauern hatte die Sorge um ein Leben nach dem Tode wahrscheinlich keine vergleichbare Bedeutung, hatten sie doch mit dem täglichen Kampf ums Überleben genug zu tun. Dieses Überleben hing stark von den Launen der Natur ab, weshalb es ihnen wichtiger schien, mit den Göttern, die in der Natur wirkten und die für den Ertrag ihrer Arbeit, aber auch für Krankheiten und andere Plagen, verantwortlich waren, Zwiesprache zu halten und sie gnädig zu stimmen.

Während man im alten Ägypten und in anderen Kulturen dieses Zivilisationskreises also annahm, dass die Verstorbenen in ein Reich der Toten einziehen würden, war man im Fernen Osten zu einer etwas anderen Überzeugung gelangt. Sicher schien, dass ein Gott das Leben auf die Erde gebracht hatte, aber war es vorstellbar, dass jedes Lebewesen Resultat eines göttlichen Schöpfungsaktes war? Man hatte längst verstanden, dass die Pflanze aus einem Samen wuchs und dass ein Kalb erst dann im Leib der Kuh gedeihen konnte, wenn sie von einem Bullen besprungen worden war. Menschen wurden ebenfalls, das war klar, in einem Begattungsakt gezeugt, bevor sie im Mutterleib reiften. Offensichtlich waren alle Lebewesen Bestandteil eines Kreislaufs von Werden und Vergehen. Dafür brauchte es keinen Gott. Also musste es noch etwas anderes geben, das göttlichen Ursprungs war, etwas, was den inneren Kern der Menschen, ihre Seele, ausmachte. Diese Seele wurde auf die Welt geschickt, um Erfahrungen zu sammeln und sich Schritt für Schritt zu vervollkommnen. Reichte die Spanne eines Lebens dafür nicht aus, konnte sie nochmals auf die Erde gesandt werden, um ihren Weg im Körper eines anderen Lebewesens fortzusetzen. Sie wurde wiedergeboren.

War die Wiedergeburt nun ein Segen oder eine Strafe? Da für die Bauern das Leben mehr Mühsal als Labsal bereithielt, gingen sie wahrscheinlich davon aus, dass eine Wiedergeburt eine Strafe sei. Man konnte dieser Strafe nur entgehen, wenn man ein den Göttern gefälliges Leben führte. Da eine Wiedergeburt auch in Tiergestalt möglich schien, galt es darüber hinaus, sorgsam mit den Tieren umzugehen. Aber galt das für alle Tiere gleichermaßen? Sicher gab es auch unter den Tieren einige, die besondere Beachtung verdienten und als Gott oder gottähnlich zu lobpreisen waren. Andere galten als minderwertig. Wenn die Wiedergeburt schon einer Strafe gleichkam, dann musste die Wiedergeburt in einem minderwertigen Tier unerträgliche Schmach bedeuten. Die Androhung einer solchen Strafe ließ jeden vor Angst erschauern.

Die Angst der Menschen wurde in allen Epochen von den Herrschenden als Mittel zur Aufrechterhaltung ihres Machtanspruchs genutzt. Je abstrakter dieser Machtanspruch wurde, weil er sich immer weniger aus der unmittelbaren Lebensnotwendigkeit des einzelnen ergab, desto drastischere Strafen wurden angedroht, um mit der Angst vor diesen Strafen die „gottgegebene“ Ordnung aufrecht zu erhalten. Manchmal war die Not der Menschen jedoch so groß, dass alle Strafen ihren Schrecken verloren und nur der Tod Erlösung versprach. Eine solche Situation konnte einen verzweifelten Aufstand gebären, den die Herren niederschlagen mussten, sollte ihre Macht nicht gefährdet werden. Der damit verbundene Tod von Sklaven oder Bauern war im höchsten Maße ärgerlich, bedeutete er doch den Verlust von Arbeitskräften, die sie dringend für die Mehrung ihres Wohlstands brauchten. Selbst wenn keine Rebellion ausbrach und die Gepeinigten lieber den Freitod wählten, als weiter die Qualen ihres Daseins zu erdulden, hatte dies für die Herrschenden wirtschaftliche Einbußen zur Folgen. Da man die Todeswilligen nicht mit der Angst vor körperlichen Strafen schrecken konnte, mussten andere Geschütze aufgefahren werden, um sie vom Freitod abzuhalten. Eine mögliche Bestrafung nach dem Tode schien geeignet, die erforderliche Angst zu erzeugen. Es schien den Menschen auch plausibel, dass nach dem Dahinscheiden ein Richter ihr Leben bewerten würde. Diejenigen, die Gutes getan hatten, würden belohnt und die Sünder schrecklich bestraft werden. Welche Taten als gut und welche als Sünde zu bewerten waren, ergab sich aus den überlieferten Regeln des Zusammenlebens und, wie sollte es anders sein, aus den Interessen der Herrschenden. Der Freitod von hörigen Bauern war mit diesen Interessen nicht vereinbar. Er wurde als Selbstmord geächtet. Ein solches Verbrechen führte zum Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen und würde ewige Verdammnis nachsichziehen. Jahrtausendelang hatte der Freitod zum Leben gehört, denn er war nicht selten das letzte Mittel, um das Überleben der Nachkommen zu sichern. Nun, da er die Interessen der Herrschenden berührte, wurde er zum Kapitalverbrechen erklärt.

Der Tod von Kriegern war dagegen höchster Ehre wert. Dies galt nicht nur für jene, die einen Überfall abgewehrt hatten, sondern auch für jene, die im Auftrag ihrer Herren andere Länder eroberten. Aber, warum zogen Menschen überhaupt in den Krieg und riskierten ihr Leben, wenn sich ihre Familien gar nicht in unmittelbarer Gefahr befanden? Einige taten es für Geld. Berufsarmeen waren aber kostspielig und meist nur mäßig motiviert. Echte Motivation erwuchs nur aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, für die man Verantwortung fühlte. In der Sippe wurde diese Zugehörigkeit durch die familiären Bande begründet, in größeren Gemeinschaften kamen die gemeinsame Sprache, aber auch gleiche Traditionen und Anschauungen, oft gebündelt in einer gemeinsamen Religion, als verbindende Elemente hinzu. Alle, die diese Überzeugungen teilten, konnten Teil der Gemeinschaft sein, alle anderen blieben ausgeschlossen. Wenn sie im Diesseits nicht zur Gemeinschaft gehörten, musste dies selbstverständlich auch im Jenseits gelten. Nun war es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Überzeugung, dass einzig der eigene Glaube der wahre Glaube sei, der nach dem Tode einen Platz im Reich Gottes sicherte, während alle Andersgläubigen der ewigen Verdammnis anheimfallen würden. Wenn sie im Jenseits verdammt waren, musste man sie wohl auch im Diesseits nicht schonen. Sie zu töten, würde gottgefällig sein und den Glaubenskriegern einen Ehrenplatz im Jenseits sichern. Das versprachen beide Kriegsparteien, versteht sich.

Die Auferstehung der Menschen nach dem Tode und ihr Eingehen in ein Reich Gottes war eine tröstliche Verheißung, für die es sich lohnte, die gegebenen Regeln zu achten. Die Vorstellung, alle jemals gelebten Menschen würden sich in einem Jenseits tummeln, hatte jedoch einen Haken, denn man hatte bereits verstanden, dass dies eine unvorstellbar große Zahl sein musste, die kaum irgendwo Platz fände. Außerdem wurden nicht alle Toten einbalsamiert, die meisten verwesten in der Erde oder in Höhlen, manche verbrannten zu Asche. Sollte dies Auswirkungen auf das Sein im Jenseits haben? Darüber hinaus war körperliche Versehrtheit für viele Menschen eine den Alltag beschwerende Erfahrung. Würde sie auch das Sein im Jenseits zeichnen? Vielleicht gab es ja eine ganz andere Erklärung, nämlich, dass nicht der ganze Mensch ins Jenseits einzog, sondern nur seine Seele, die in einem Himmelreich auferstehen würde. Voraussetzung für den Einzug in dieses Himmelreich war natürlich, dass der Mensch nach den verkündeten Regeln lebte, denn sonst würde die Hölle mit ewig währenden Strafen auf ihn warten. Nur, wer ist schon ohne Sünde? Zum Wohle der Sünder, und zum Nutzen des eigenen Geldsäckels, eröffnete der Pabst den Christen die Möglichkeit, sich von ihren Sünden freizukaufen. Dass damit wieder die Angst der Menschen vor den Ungewissheiten des Todes zum eigenen Nutzen verwandt wurde, empörte die christlichen Reformer. In ihren Lehren ersetzten sie den gestrengen Richter, der an der Schwelle zum Jenseits über das Schicksal der Gestorbenen entschied, durch einen barmherzigen Gott, der allen Menschen Seelenheil versprach. Hoffnung sollte sie auf ihren letzten Weg geleiten, nicht Angst.

Warum sterben wir überhaupt? Täglich erneuern sich Millionen unserer Zellen, sie sterben ab und werden neu gebildet. Knochenbrüche heilen und Verletzungen der Haut schließen sich. Selbst innere Organe können sich nach einer Schädigung in gewissem Umfang regenerieren. Sollte es nicht möglich sein, das Sterben von Menschen zu verhindern? Unabhängig von der Frage nach der Machbarkeit drängen sich an dieser Stelle grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Leben und Tod auf. Einerseits schließen Leben und Tod einander aus, denn alles, was lebt kann nicht tot sein, und was tot ist, lebt nicht mehr. Andererseits wäre, wenn nichts und niemand stürbe, auch Leben bald unmöglich. Pflanzen brauchen für ihr Wachstum nicht nur die Energie der Sonne sondern auch vielfältige Stoffe, die sie aus der Erde ziehen. Würde keine Pflanze sterben, würden sich diese Ressourcen bald erschöpfen. Tiere sind in ihrer Existenz noch viel direkter vom Tod abhängig, denn sie müssen, um zu überleben, andere Tiere oder Pflanzen töten. Ohne Leben gäbe es keinen Tod und ohne Tod kein Leben.

Tod und Leben sind jedoch nicht so klar von einander abgegrenzt, wie es den Anschein hat. Wir haben schon erfahren, dass in einem lebenden Organismus ständig Zellen sterben und neu gebildet werden. Auch wenn ein Organismus seine Lebenstätigkeit eingestellt hat, muss das nicht zwangsläufig und sofort für alle seine Zellen gelten. Außerdem gehen auf und in dem toten Organismus sehr lebendige Mikroben ans Werk und zerlegen den einst so stolzen in einfache Strukturen. Das ein oder andere Atom, aus denen dieses Leben bestand, wird im Laufe der Zeit vielleicht in eine andere Zelle gelangen und als Teil eines neuen Organismus wiedergeboren werden. Man könnte sagen, der Tod ist die Basis des Lebens, und, das Leben überwindet den Tod, in dem es sich neu organisiert. Würde man das Sterben verhindern, könnte, wegen der Begrenztheit der Ressourcen, bald nichts Neues mehr entstehen. Kann nichts Neues entstehen, dann würde auch die Anpassung und Weiterentwicklung der Arten unmöglich werden. Da sich die Umwelt permanent verändert, würde Leben, das sich nicht mehr anpassen kann, irgendwann untergehen. Das heißt, der Tod, oder besser die Abfolge von Werden und Vergehen, ist die Voraussetzung dafür, dass das Leben fortbesteht.

Das mag allgemein für die Natur richtig sein, aber warum sollte es für die Menschen gelten? Biologische Prozesse werden immer besser verstanden und beherrscht. Das heißt, man kann sie zielgerichtet beeinflussen, so dass es sicher bald möglich sein wird, auch den Alterungsprozess aufzuhalten. Sollte es nicht ein hehres Ziel sein, Menschen unsterblich zu machen? Es käme wohl eher einer Katastrophe gleich, nicht nur, weil die Ressourcen auf Erden begrenzt sind, sondern auch, weil es neben dem biologischen Alterungsprozess eine mentale Alterung gibt. Im Laufe ihres Lebens sammeln die Menschen Erfahrungen, die ihre Entscheidungen und ihr Verhalten prägen. Diese Erfahrungen machen das Leben leichter, da sie helfen, zukünftig erfolgreicher zu agieren und die ein oder andere Blessur zu vermeiden. Mit dem Anhäufen von Erfahrungen verlieren sich aber auch Illusionen und Träume darüber, wie das Leben sein könnte, wie es wäre, wenn es die bestehenden Zwänge nicht gäbe. Diese Träume sind Antrieb für ein Handeln, das gesellschaftliche Veränderungen bewirkt, während Erfahrungen eher zur Ablehnung von Veränderungen führen, da diese Risiken beinhalten. Das heißt, die Gesellschaft braucht den Wechsel der Generationen, den Born jugendlicher Träume genauso wie den Schatz, der in den Erfahrungen liegt, um sowohl Stabilität als auch Veränderung zu gewährleisten. Eine Gesellschaft, in der nicht genügend Träume nachwachsen, wird in Nostalgie erstarren und bald nicht mehr erneuerungs- und damit anpassungsfähig sein.

Der Tod gehört zum Leben, er ist Teil des Lebens. Er ist der Abschluss im Leben des einzelnen und gleichzeitig Voraussetzung für das Leben der Nachkommenden. Alle Überlegungen, die sich mit dem Tod verknüpfen, sollten nicht zuletzt deshalb auf die Nachkommen gerichtet sein. Trotzdem bleibt natürlich ein Stück Ungewissheit, was das Sterben und den Tod betrifft. Man weiß immerhin, dass der letzte Schritt, mit dem der Körper seine Lebenstätigkeit einstellt, weder qualvoll noch schrecklich ist. Im Gegenteil, er soll von einem Feuerwerk des Gehirns, das Licht und Wohlgefühl beschert, begleitet sein. Der Tod kann darüber hinaus Erlösung bedeuten, zum Beispiel dann, wenn Schmerzen und Gebrechen das Leben zur Last werden lassen oder wenn das Dasein seinen Sinn verloren hat, weil man nicht mehr am Leben der Gemeinschaft teilhaben kann. Diese Erlösung zu erlangen, sollte niemanden verwehrt sein, es sollte für jeden einen würdigen Weg selbstbestimmten Sterbens geben.

zuletzt geändert: 18.10.2019