Huhn oder Ei?

Was gab es zuerst, das Huhn oder das Ei? Ohne ein Ei kann kein Huhn entstehen, ohne Huhn gäbe es jedoch kein Ei. Die Frage lässt sich offensichtlich nicht so ohne weiteres beantworten, sie ist auch meist als Scherzfrage gemeint. Dabei hat sie einen durchaus ernst zunehmenden Hintergrund, denn, wenn man das Ei als Sinnbild für den Bauplan des Huhns versteht, dann ergibt sich die Frage, ob der Bauplan oder dessen Materialisierung im Tier das Primäre ist? Je nachdem, wie man die Frage nach dem Primären beantwortet, muss man sich den idealistischen oder materialistischen Strömungen der Philosophie zurechnen lassen. Deren Streit wehrte lange und ist wohl bis heute nicht letztinstanzlich entschieden. Vielleicht lässt er sich auch gar nicht entscheiden, da es sich um zwei Seiten derselben Medaille, um einen dialektischen Gegensatz handelt.

Untersuchen wir zuerst, wie sich der Gegensatz zwischen der materiellen und der ideellen Seite allen Seins entwickelte. Ausgangspunkt des Seins, wie wir es kennen, war der Urknall. In seiner Folge bildeten sich Atome, die untereinander Verbindungen eingingen, etwas später auch Sterne und Sternensysteme sowie unzählige andere Himmelskörper. All diesen Strukturen ist gemeinsam, dass sie aus Teilen bestehen und gleichzeitig selbst Bestandteile einer oder mehrerer übergeordneter Strukturen sind. Außerdem befinden sie sich alle in ständiger Bewegung respektive Veränderung. Der Zusammenhang der Teile innerhalb einer Struktur wird durch Wirkungen begründet, die ihre Teile über die eigenen Grenzen hinaus entfalten. Sie sind das konstituierende Moment der Struktur, deren verbindende Kraft. Die nach außen gerichteten Wirkungen der Teile geben gleichzeitig Kunde von ihrer Existenz. Da sie Veränderungen beziehungsweise Anpassungen bei anderen Teilen der Struktur verursachen, führen sie auch zu Veränderungen der von diesen Teilen ausgehenden Wirkungen, mithin der von ihnen ausgehenden Informationen. Die materielle Seite aus Struktur und Bewegung und die ideelle Seite als Information über das eigene Sein, sind also nicht nur miteinander verbunden, sie beeinflussen sich auch wechselseitig.

Jede Struktur strebt nach Stabilität, um die eigene Fortexistenz zu sichern. Gleichzeitig sind ihre Außenwirkungen darauf gerichtet, einen größeren Zusammenhang herzustellen, was zur Folge hat, dass andere in ihrer Existenz beeinflusst werden. Da dies eine Eigenschaft aller Materie ist, gibt es keine Struktur, die nicht durch andere beeinflusst würde. Das heißt, zur Existenz von Strukturen gehört ihr Drang nach Stabilität genauso wie der Zwang, sich den sich ständig verändernden Gegebenheiten anzupassen. In dem von diesem Gegensatz gebildeten Rahmen entstanden nach dem Urknall Atome sowie mancherorts auch Verbindungen zwischen ihnen, Moleküle genannt. Unter ihnen waren auf Erden irgendwann auch komplexe Moleküle, deren Besonderheit darin bestand, dass sie nicht nur als Ganzes eine Außenwirkung entfalteten, sondern dass auch einzelne ihrer Abschnitte unterschiedliche, nach außen gerichtete Wirkungen besaßen. Bei einigen dieser Moleküle ergänzten sich diese Wirkungen derart, dass sie zur Duplizierung der Moleküle führten. Als es diesen Molekülen dann auch noch gelang, sich mit anderen zu einem von der Außenwelt weitgehend abgeschirmten Ganzen, einer Zelle, zu vereinen, verbesserten sich ihre Chancen zur Fortexistenz und Vermehrung erheblich. Für die Vermehrung war jetzt aber nicht mehr nur das ursprüngliche Molekül, sondern die gesamte Zelle zu duplizieren, das heißt, die von einem Teil des Ganzen, dem Kernmolekül, ausgehenden Wirkungen mussten einen Prozess steuern, der zur Duplizierung des Ganzen führte. Dafür musste das Kernmolekül den Bauplan der gesamten Zelle wie auch die Information zur Steuerung der Vervielfachung  insichtragen. Mit der Konzentration der Informationen für den Bau der ganzen Zelle in einem ihrer Teile wurde die ursprünglich direkte Verknüpfung von ideeller und materieller Seite des Seins ein Stück weit gelöst.

Für die Vermehrung veranlasst das Kernmolekül unter anderem die Synthese spezieller Eiweiße, Enzyme genannt, die die Bildung der für den Zellaufbau erforderlichen komplexeren Eiweiße bewirken. Das heißt, die im Bauplan enthaltene Information initiiert mittels der Struktur, auf der sie gespeichert ist, die Bildung von Enzymen, die dann als Boten der Information agieren und gleichzeitig durch ihre Außenwirkungen den Prozess der Zellbildung vorantreiben. Die Weiterleitung von Informationen auf einem materiellen Träger, der die zur Umsetzung der Information erforderlichen Wirkungen entfaltet, kann man mit Fug und Recht als Volltreffer der Evolution bezeichnen, denn kein Lebewesen kommt ohne ihre Hilfe aus. Der große Vorteil der Botenstoffe besteht in dem hohen Grad an Zuverlässigkeit, der durch die Einheit von Information und Wirkung erreicht wird. Ihr wichtigster Nachteil ist das vergleichsweise geringe Tempo des Informationsflusses. Tiere, deren größte Errungenschaft die zielgeichtete Bewegung im Raum ist, brauchen dafür jedoch eine Vielzahl von Informationen über die Außenwelt, die sie in kürzester Frist auswerten müssen. Als Alternative zu den relativ langsamen Botenstoffen kamen Energieimpulse in Frage, für deren zielgerichteten und schnellen Transport allerdings spezielle Leitungen erforderlich sind. Es bildeten sich Nervenzellen heraus, die sich zu Impulsbahnen verbanden und den Körper durchzogen. Die von ihnen weitergeleiteten Impulse können stärker oder schwächer konzentriert sein und auf diese Weise eine Information über die Stärke des auslösenden Reizes vermitteln, darüber hinaus sind sie jedoch unspezifisch, das heißt, sie können keine weitergehenden Informationen tragen. Wie bleibt dann die Unterschiedlichkeit der Informationen erhalten?

Informationen über die Außenwelt entstehen in Sensorzellen. Jede Sensorzelle ist auf einen ganz bestimmten Reiz, eine von außen kommende Wirkung spezialisiert. Sie reagiert auf den Reinz, indem sie einen elektrischen Impuls generiert, der über die Nervenbahnen zu einer bestimmten Empfängerzelle transportiert wird. Die Empfängerzelle löst bei Eintreffen des Impulses eine in ihrem Bauplan festgelegte Reaktion aus. Durch die direkte Verbindung der spezialisierten Sensorzelle mit einer bestimmten Empfängerzelle bleibt die Information über die Spezifik der registrierten äußeren Wirkung erhalten, auch wenn der Impuls selbst diese nicht tragen kann. Es würde jedoch nicht ausreichen, dass eine Sensorzelle eine Empfängerzelle aktiviert, um einen ganzen Organismus in Aktion zu versetzen. Für eine Aktion müssen, selbst in einfach strukturierten Organismen, viele Zellen in einer bestimmten Reihenfolge aktiv werden. Die Aktivierung der Zellen wird durch ein neuronales Netz erreicht, das den Impuls der Sensorzelle planmäßig im Organismus verteilt. Diese neuronalen Netze sind damit die materielle Grundlage der Bewegungen beziehungsweise des Verhaltens der Tiere.

Im Laufe der Evolution entwickelten die Tiere immer neue Bewegungsvarianten und Verhaltensmuster, die ihnen eine flexible Anpassung an unterschiedliche und sich verändernde Bedingungen ermöglichten. Sind mehrere Varianten der Bewegung oder des Verhaltens möglich, ist eine Entscheidung darüber erforderlich, welche von ihnen zur Ausführung kommen soll. Für eine Entscheidung müssen wiederum möglichst viele Informationen über die Umwelt und die Verfasstheit des eigenen Körpers gesammelt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. In diesem Zusammenhang erwies es sich als vorteilhaft, sowohl die neuronalen Netze zur Steuerung der Bewegungen beziehungsweise des Verhaltens als auch die zu bewertenden Informationen an einem Ort, in einem Gehirn zu konzentrieren. Für die Bewertung der dort eingehenden Informationen ist ein Maßstab erforderlich. Einige solcher Maßstäbe sind tief in der Evolution verwurzelt, so dass sie mit dem Erbgut weitergegeben werden. Man muss sich die Bewertung von „süß“ oder „sauer“ nicht mühsam erarbeiten, man bekommt sie in die Wiege gelegt. Süß ist angenehm, weil nahrhaft, sauer weniger. Ein mit der Evolution stetig wachsender Teil der Maßstäbe resultiert jedoch aus Erfahrungen, die man selbst sammelt oder die einem von Artgenossen vermittelt werden. Damit diese Erfahrungen in den Entscheidungsprozess einfließen können, müssen sie ebenfalls als materielle Strukturen im Gehirn hinterlegt sein.

Die Information einer Sensorzelle regt durch einen elektrischen Impuls und vermittelt über Nervenbahnen eine fest zugeordnete Zelle im Gehirn an. Da dies viele Sensorzellen gleichzeitig tun, entsteht im Gehirn eine Struktur von aktivierten Zellen, die sich zu einem neuronalen Netz der aktuellen Information verbinden. In ähnlicher Weise sind Informationen über Geschehnisse aus der Vergangenheit als Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert. Sie wurden jedoch auf wesentliche Fakten reduziert, nicht zuletzt, um ihre Zuordnung zu einer aktuellen Information zu erleichtern. Das neuronale Netz der aktuellen Information und die Netze, die die Erfahrungen beinhalten, werden miteinander abgeglichen. Können ausreichend Übereinstimmungen mit einer als erfolgreich bewerteten Erfahrung festgestellt werden, verknüpfen sich die Netze und das mit der Erfahrung verbundene Verhaltensmuster wird aktiviert. Wahrnehmungen wie auch Erfahrungen sowie aus ihnen resultierende Entscheidungen kann man als ideelle Prozesse begreifen, denen materielle Strukturen in Form von neuronalen Netzen als Träger zugrundeliegen. Die von den Informationen initiierten Aktionen können diese materiellen Strukturen, mithin die Erfahrungen und deren Bewertung, wiederum beeinflussen beziehungsweise verändern.

Die Erfahrungen, die zum Abgleich mit aktuellen Informationen herangezogen werden, sind zuvörderst eigene Erfahrungen. Tiere sind jedoch in der einen oder anderen Weise soziale Wesen, die sich auch Erfahrungen von Artgenossen zunutzemachen. Dies gilt in besonderem Maße für die Gattung Mensch. Die Menschen haben sich vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation erschlossen, mit deren Hilfe der einzelne auf den in der Gemeinschaft vorhandenen Erfahrungsschatz zugreifen kann. Die Gemeinschaft wartet jedoch nicht, bis auch der Letzte den Wert dieses Schatzes erkennt, sie gibt die Erfahrungen vielmehr auch aktiv an die Nachkommen weiter. Ein erfolgreicher Jäger wird die Heranwachsenden versammeln und ihnen seine Erlebnisse schildern, die sich wegen der emotionalen Färbung seines Berichts fest im Gedächtnis der Zuhörer verankern. Erfahrungen über Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft werden aber nicht nur als persönliche Erlebnisse weitergegeben, sie können auch in einer verallgemeinerten Form, als Wissen, verbreitet werden. Der Vorteil des Wissens besteht darin, dass es durch seine abstrakten Charakter in unterschiedlichen Situationen helfen kann, erfolgversprechende Entscheidungen zu treffen. Da ihm meist die emotionale Färbung fehlt, ist für dessen Aneignung allerdings einige Anstrengung erforderlich. Trotz des stetig wachsenden Schatzes an Erfahrungen und Wissen gab es zu allen Zeiten auch Erscheinungen in Natur und Gesellschaft, für die die Menschen keine nachprüfbaren Erklärungen fanden. Das hinderte sie nicht daran, auch zu diesen Fragen Anschauungen beziehungsweise Überzeugungen zu entwickeln und an die Nachkommen weiterzugeben. Diese Überzeugungen wirkten in gleicher Weise prägend wie das vermittelte nachprüfbare Wissen oder die weitergetragenen Erlebnisse der Altvorderen. Wenn die vorherrschende Deutung war, dass Zeuss selbst die Blitze schleudert, dann konnte der einzelne in seiner Bewertung des Blitzschlags nur schwerlich zu anderen Ergebnissen gelangen.

Der Erfahrungsschatz einer Gemeinschaft wird vor allem von den Umständen bestimmt, unter denen sie lebt. Dazu gehören neben den natürlichen Bedingungen ihrer Existenz auch Besonderheiten, die sich aus dem erreichten Stand der Entwicklung und der bisherigen Geschichte der Gemeinschaft herleiten. Das heißt, die entstandenen Verhältnisse drücken den in der Gemeinschaft vorhandenen Vorstellungen über das Leben ihren Stempel auf. Diese Vorstellungen prägen das Handeln der Menschen wie auch deren Zusammenleben und damit wiederum zukünftige Erfahrungen. Trotz dieses auf die Reproduktion der bestehenden Verhältnisse gerichteten Effekts vollziehen sich, bedingt durch innere Prozesse aber auch von äußeren Einflüssen bewirkt, Entwicklungen, die die Lebensgrundlagen der Gemeinschaft verändern. Da die herrschenden Ideen in der Regel auf Kontinuität gerichtet sind und deshalb die anstehenden Veränderungen nur ungenügend aufgreifen, können sie zur Ursache von Stagnation und Krisen werden. In jeder Gesellschaft gibt es jedoch Menschen, die die herrschenden Anschauungen in Frage stellen. Häufig ist es die junge Generation, die noch nicht in tradierten Denkmustern gefangen ist, die mit neuen Ideen aufbegehrt. Sie trägt damit zur Erneuerung respektive Anpassung der in der Gesellschaft herrschenden Vorstellungen an die sich verändernden Bedingungen bei.

In den modernen, sehr komplex gewordenen Gesellschaften werden Informationen sowie Erfahrungen, Wissen und Überzeugungen in vielfältiger Weise verbreitet. Wenn in früheren Zeiten ein bestimmtes Weltbild die Gesellschaft fast vollständig dominieren konnte, so ist dies heute eher selten der Fall. Vorboten dieser Entwicklung zeigten sich bereits während der Reformation, als mit Hilfe des Buchdrucks das Meinungsmonopol der katholischen Kirche gebrochen wurde. Durch den mit der Industriellen Revolution verbundenen technischen Fortschritt war es dann möglich, Nachrichten in Windeseile zu verbreiten, was die Presse zur vierten Gewalt im Ringen um politische Weichenstellungen werden ließ. Waren die Versuche der Mächtigen, den Zugang zu Informationen zu beschränken, schon zu dieser Zeit kaum mehr von Erfolg gekrönt, so sind sie heute, durch die Vielfalt der Kanäle, über die Informationen Verbreitung finden, so gut wie aussichtslos. Die Vielfalt der erreichbaren Informationen führt jedoch dazu, dass der einzelne kaum mehr in der Lage ist, diese zu überblicken. Er muss sich auf eine Auswahl von Nachrichten beschränken. Die verbreiteten Nachrichten beinhalten aber nicht nur Fakten, sondern meist auch Bewertungen, die von den Interessen des Nachrichtengebers diktiert sind. Will man sich eine eigenständige Meinung bilden, braucht man also nicht nur geprüfte Fakten sondern auch einen eigenen Maßstab für deren Bewertung. Diesen Wertemaßstab zu beeinflussen, ist zu einer Schlüsselfrage im Kampf um die Köpfe und damit zu einer Machtfrage geworden. Er wird vor allem mit Hilfe von Feindbildern geführt, die durch diffamierende Sprachregelungen und eine selektive Nachrichtengebung immer aufs Neue emotional aufgeladen werden. Dabei schreckt man auch vor Halbwahrheiten und Lügen nicht zurück.

An vielen Stellen unserer Überlegungen wurde deutlich, dass sich materielle und ideelle Prozesse gegenseitig beeinflussen. Auf der einen Seite gibt jede materielle Struktur mittels ihrer nach außen gerichteten Wirkungen Kunde von ihrem Sein, auf der anderen Seite existiert kein Gedanke, keine Theorie, keine Nachricht ohne eine materielle Struktur, in der sie gespeichert ist. Diese materiellen Strukturen können neuronale Netze genauso sein, wie Mikrochips oder die Seiten eines Buches. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass alle geistigen Prozesse mit materiellen Strukturen darstellbar sein müssen. Noch vor einigen Jahren war es für mich unvorstellbar, dass man Maschinen bauen könnte, die einen Menschen in jeglicher Hinsicht ersetzen. Heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Wahrscheinlich wird es bereits in absehbarer Zeit möglich sein, nicht nur motorische, sondern auch immer mehr der geistigen Fähigkeiten von Menschen auf Maschinen zu übertragen. Dann wird es nicht lange dauern, bis die Maschinen auch auf diesen Gebieten besser sind als ihre Schöpfer. Werden sie die Macht übernehmen? Vielleicht könnten sie ja den Planeten retten und dem menschlichen Leben einen neuen Sinn verleihen, vielleicht würden sie die Menschen aber auch als minderwertig einstufen und zur Vernichtung freigeben. Da beide Optionen im Homo sapiens angelegt sind, werden sie wohl auch seinen Schöpfungen nicht fremd bleiben. Es müssten Regeln gefunden und durchgesetzt werden, die eine solche Entwicklung unmöglich machten. Bisher ist es meines Wissens jedoch noch nie gelungen, technischen Fortschritt dauerhaft zu kanalisieren oder gar zu verhindern. Alles, was möglich war, wurde irgendwann durch irgendwen realisiert. Es bleibt die Hoffnung, dass uns die Maschinen dann, trotz alledem, als schützenswerte Art einstufen.

letzte Änderung: 08.12.2019