Zum Verhältnis von Revolution und Evolution

Eine Revolution wird als „grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme“ definiert, wobei dieser Wandel „meist aprubt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt“. 1) Im Gegensatz dazu wird die Evolution als „allmähliche Veränderung“ beschrieben. 2) Aprubter Wandel und allmähliche Veränderung unterscheiden sich grundlegend, sie schließen einander aus. Wenn man sich die Entwicklung der Welt anschaut, egal ob man den Kosmos betrachtet oder das Leben auf der Erde, egal ob man materielle oder ideelle Prozesse untersucht, findet man über lange Perioden gesehen immer beides, Phasen einer allmählichen Veränderung genauso wie aprubte Wandlungen. Man kann also davon ausgehen, dass sowohl die Evolution als auch die Revolution Bewegungsformen sind, die einander bedingen.

Diese Bedingtheit muss bereits in den kleinsten Bausteinen der Materie angelegt sein. Betrachten wir also wieder das Atom. Das Atom besteht aus Protonen und Neutronen, die einen relativ stabilen Kern bilden, und aus Elektronen, die diesen Kern umschwirren und das dynamische Moment des Atoms ausmachen. Statisches und dynamisches Moment fügen sich zu einer Einheit, die stabil existieren kann, die aber auch zu Veränderungen fähig ist. Wenn es gelänge, dieses Atom von allen äußeren Einflüssen abzuschirmen und innere, das Gleichgewicht störende Wirkungen zu unterbinden, dann würde es bis in alle Ewigkeit unverändert bestehen. Das tut es jedoch nicht, denn es lässt sich nicht vermeiden, dass alles und jedes in größere Strukturen und deren Wirkungsgefüge eingebunden ist. Außerdem gibt es immer auch andere, Dritte gewissermaßen, die unser Atom in seinem Sein beeinflussen können. Hinzu kommt, dass das Atom selbst aus Teilen besteht, die Wirkungen entfalten und so Veränderungen des Ganzen verursachen können. Erinnert sei an den radioaktiven Zerfall großer Atome, der keiner äußeren Einflüsse bedarf.

Äußere wie auch die innere Wirkungen haben einen Abfluss oder einen Zufluss von Energie zur Folge. Ein Atom wird, wie jede andere Struktur auch, diese Zu- oder Abflüsse bis zu einem gewissen Grad verkraften, indem es seine eigenen Bewegungen anpasst. Die daraus resultierenden Veränderungen sind evolutionär, da sie das System, die Struktur des Atoms, nicht grundlegend verändern. An einem bestimmten Punkt ist das Maß jedoch voll und der Abfluss oder die Zufuhr weiterer Energie führt zum Kollaps der Struktur. Sie muss sich neu erfinden, das heißt, das erforderliche relative Gleichgewicht von Masse und Energie im Rahmen einer neuen Struktur herstellen. Das Kristallgitter eines festen Stoffes könnte sich zum Beispiel auflösen und einem flüssigen Zustand Platz machen. Solche strukturellen Veränderungen erfolgen aprubt, an einem bestimmten Punkt der Entwicklung. Die revolutionäre Veränderung ist hier also Resultat eines evolutionären Prozesses. Mit ihm entsteht etwas Neues, das andere Eigenschaften aufweist, das sich anders zu äußeren Wirkungen verhält, obwohl es immer noch aus den gleichen Teilen besteht.

Grundlegende strukturelle Wandlungen, das heißt qualitative Veränderungen, resultieren aber nicht nur aus der allmählichen Anhäufung oder dem allmählichen Abfluss von Potenzialen (Quantitäten), sie können auch das Resultat plötzlicher, massiver äußerer Einflüsse sein. Wird ein Atom einer energiereichen Strahlung ausgesetzt, kann diese den Atomkern zerstören. Seine Teile müssen sich fortan in neuen Strukturen organisieren oder als freie Energie das Weite suchen. Das heißt, eine starke äußere Wirkung kann schlagartig zu einer revolutionären Veränderung führen, die ihrerseits eine völlige Neuordnung der weiteren Entwicklung nachsichzieht. Untersucht man die Geschichte der Erde und des Lebens darauf, dann stösst man immer wieder auf Katastrophen, die durch äußere Faktoren ausgelöst wurden. Sie hatten schlagartig große Veränderungen zur Folge. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist der Untergang der Dinosaurier, die Jahrmillionen das Leben auf der Erde dominiert hatte, dann aber in relativ kurzer Zeit fast völlig von ihr verschwanden. Es ist hier unerheblich, welcher Art die ursächliche Katastrophe war, aus der Sicht der Saurier waren es in jedem Fall äußere Faktoren, die ihre Lebensgrundlagen dramatisch veränderten und ihren Untergang beschworen. Der aprubte Wandel der Existenzbedingungen führte zu einem radikalen Schnitt in der Evolutionsgeschichte, der den Aufstieg anderer Lebewesen, darunter der Säugetiere, ermöglichte. Ohne diese Revolution hätte die Evolution einen anderen Verlauf genommen, wäre der Mensch womöglich nie auf ihrer Bühne erschienen.

Nehmen wir an, besagte Katastrophe resultierte aus dem Einschlag eines Asteroiden, dann kann man es wohl als Zufall werten, dass dieser Asteroid zu einem Zeitpunkt auf die Erde schlug, als sich die Säugetiere in den Startlöchern der Evolution befanden. Hinzu kommt, dass der Einschlag mit einer Energie erfolgte, die die Bedingungen für die Existenz von Leben nicht vollends zerstörte, die aber doch zu klimatischen Veränderungen führte, denen die Saurier nicht gewachsen waren. Jedem Faktor, der zu diesem Ereignis und der nachfolgenden Entwicklung führte, kann man eine innere Logik zuordnen, das heißt er hatte Ursachen, die notwendig zu diesem Ergebnis führten. Die Vielzahl der Faktoren, die in Ort und Zeit zusammenwirken mussten, damit die Evolution genau diesen Verlauf nehmen konnte, war jedoch so groß, dass ihr Zusammentreffen als Zufall erscheint. Verallgemeinernd heißt das, sowohl die Evolution als auch die Revolution beruhen auf kausalen Zusammenhängen, die ihren Ablauf bestimmen. Gleichzeitig werden sie von zufälligen Ereignissen geprägt, die ihren scheinbar vorherbestimmten Verlauf grundlegend ändern können.

Das Zusammenwirken von Faktoren in Ort und Zeit spielt auch in anderer Hinsicht eine Rolle. Beginnen wir mit der Zeit. Die Zeit ist bereits in den Definitionen von Evolution und Revolution, nämlich als aprubt und allmählich, enthalten. Beide Charakteristika tragen jedoch einen relativen Aspekt in sich, der mit der Zeitspanne, die man betrachtet, deutlich wird. In den Maßstäben der Entwicklung des Lebens, die einen Zeitraum von rund vier Milliarden Jahren durchschritt, kommt das Auftauchen des modernen Menschen einer Revolution gleich. In nur einigen Hunderttausend Jahren wurden die Homo sapiens zu einer Spezies, die die Fähigkeit entwickelte, den eigenen Lebensraum wie auch den Lebensraum der meisten anderen Lebewesen des Planeten umzugestalten. Diese Revolution vollzog sich allerdings nicht in einem Schritt sondern in Etappen, die wiederum von allmählichen Fortschritten wie auch von schlagartigen Veränderungen gekennzeichnet waren. Außerdem hatte der Siegeszug der Homo sapiens eine Vorgeschichte, in der ebenfalls Phasen einer allmählichen Entwicklung wie auch plötzliche Wendungen zu verzeichnen waren. Man kann also festhalten, dass Revolutionen auch evolutionäre Abschnitte beinhalten und eine Evolution irgendwann Brüche, aprubte Wendungen oder Neuanfänge durchläuft.

Welche Rolle spielt nun der Ort? Prinzipiell vollzieht sich jedes Ereignis an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit. Jedes Ereignis entfaltet daher seine Wirkungen in einem mehr oder weniger begrenzten Umfeld. Diese lokale Begrenztheit kann unterschiedliche Dimensionen erfassen. So ist die Entstehung unseres Sonnensystems in die Geschichte des Universums eingebettet, dessen Entwicklung sich wiederum nicht überall in gleicher Weise vollzog. Nicht zuletzt wegen dieser Unterschiede waren und sind nicht überall Voraussetzungen für die Entstehung von Leben gegeben. Auch auf der Erde vollzog sich die Entwicklung nicht überall in gleicher Weise. Es entstanden verschiedene Lebensräume, die unterschiedliche Lebensformen hervorbrachten. Da sind die großen globalen Sphären wie Luft, Wasser und Land, in denen die Entwicklung des Lebens unterschiedliche Wege nahm. Außerdem bestanden und bestehen in den einzelnen Weltengegenden spezifischen Existenzbedingungen, die zu Sonderwegen der Evolution führten.

Die Evolution des Lebens verlief also nicht gleichförmig, weder in der Zeit noch in den einzelnen Sphären und Gegenden des Planeten. Aber wie vollzieht sich dieser Prozess überhaupt? Die Evolution beinhaltet die Anpassung der Lebewesen an unterschiedliche beziehungsweise sich verändernde Umweltbedingungen. Verändern können sich zum Beispiel die klimatischen Verhältnisse und damit die Ernährungsvoraussetzungen. Vielleicht tauchen auch bisher unbekannte Konkurrenten zum bestehenden Nahrungsangebot auf oder es sind neuerdings Räuber unterwegs, für die man selbst zur erstrebenswerten Beute wird. All diese Faktoren verlangen nach einer Anpassung, damit die eigene Art überleben kann. Diese Anpassung wird im Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung durch immer neue Kombinationen des Erbguts erreicht. Als Resultat entstehen Nachkommen, die in ihrer Mehrzahl einem Durchschnitt an Größe, Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz oder anderen Merkmalen entsprechen. Es entstehen aber auch Nachkommen, die zu schwach oder aus anderen Gründen nicht überlebensfähig sind. Wieder andere erreichen die „Norm“ der Art nicht, weshalb sie meist von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Daneben entstehen aber auch Individuen, die die Norm in dem einen oder anderen Merkmal übertreffen und dadurch vielleicht besonders gut mit den veränderten Lebensbedingungen zurechtkommen. Deren Nachkommen haben alle Chancen, eine dominierende Rolle in der Population zu spielen und ihren Samen in großem Maßstab fruchtbar zu machen. Als Resultat werden sich die mit ihnen verbundenen Merkmale verbreiten und so die Anpassung verstetigen.

Außer durch eine allmähliche Veränderung kann die Anpassung an veränderte Bedingungen auch sprunghaft erfolgen, denn neue Merkmale entstehen nicht nur aus neuen Kombinationen vorhandener Gene sondern auch aus Fehlern bei der Duplizierung des genetischen Materials. Die daraus entstehenden Mutationen mögen zwar in den meisten Fällen nicht existenzfähig sein, einige werden sich jedoch behaupten, insbesondere dann, wenn sie Eigenschaften zeigen, die Vorteile im Überlebenskampf bieten. Durch die ihnen eigene Vitalität werden sie sich schneller vermehren als andere und die schlechter angepassten Artgenossen schrittweise verdrängen. Zufällige Genveränderungen können auch im Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung auftreten, da auch diese letztlich auf der Duplizierung der Zellen durch Teilung basiert. Das auf solche Weise veränderte genetische Material fließt dann in den Pool der möglichen genetischen Kombinationen ein, wo es sich bewähren kann. Stellen die mit ihm verbundenen Eigenschaften eine gelungene Anpassung dar, werden sie schrittweise die Art dominieren. Es ist aber auch möglich, dass sich eine ganze Reihe von Eigenschaften gleichzeitig verändern, zum Beispiel weil in neue Lebensräume vorgedrungen wird. Die daraus entstehenden Lebewesen, die sich nun in mehreren Merkmalen von ihren Vorgängern unterscheiden, konstituieren eine neue Art, die eine Rekombination mit den Vorfahren ausschließt.

Noch einmal zurück zum Prozess der Menschwerdung. Die Entwicklung der Gattung Homo beinhaltete neben evolutionären Phasen auch eine Reihe von Brüchen, die in der Herausbildung neuer Arten Ausdruck fanden. Eine Besonderheit der Gattung Homo bestand von Anfang an darin, dass ihre Vertreter Gegenstände, die sie in der Umgebung fanden, für ihre Zwecke verwendeten. Sie benutzten sie als Waffen, um Angreifer abzuwehren oder als Werkzeuge, um die angestrebte Nahrung zu erlangen. Irgendwann begannen die Menschen, die in der Natur vorgefundenen Gegenstände derart zu verändern, dass sie besser ihren Zwecken dienten. Mit der Fähigkeit, die Hilfsmittel an die jeweiligen Bedingungen und Zwecke anzupassen, erreichten sie ein höheres Maß an Eigenbestimmtheit. Physische Anpassungen waren nun nicht mehr zwingend die Voraussetzung für das Überleben. Die bei der Herstellung der Werkzeuge und Waffen gesammelten Erfahrungen wurden in der Gemeinschaft weitergegeben und dort akkumuliert, so dass ein Pool an Erfahrungen entstand, der stetig wuchs. Mit diesen Besonderheiten hoben sich die Menschen von allen anderen Tieren ab.

Um den Platz der Menschen in der Naturgeschichte richtig einordnen zu können, müssen wir noch einmal auf deren Anfänge zurückblicken. Am Beginn entstanden Strukturen, die äußeren Wirkungen, mit denen sie konfrontiert wurden, nur reaktiv begegnen konnten, indem sie diese Wirkungen in sich aufnahmen. War die Absorbtion dieser Wirkungen nicht möglich, so wurde die Struktur zerstört. Wir bezeichnen diese Art von Strukturen als unbelebte Natur. Irgendwann entstanden darüber hinaus Strukturen, die die Fähigkeit besaßen, Veränderungen nicht mehr nur zu erdulden, sondern sich aktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Wir nennen sie Lebewesen. Lebewesen nehmen ihre Umwelt auf die eine oder andere Weise wahr. Sie nutzen die dabei gewonnenen Informationen, um das eigene Verhalten der vorgefundenen Situation anzupassen. Dieser aktive Kampf ums Überleben wird ergänzt durch eine reaktive Anpassung an sich langfristig verändernde Bedingungen, mithin durch die Evolution der Arten. Die Gattung Homo entwickelte darüber hinaus die Fähigkeit, auch den längerfristigen Veränderungen in der Umwelt aktiv, durch die Weiterentwicklung ihrer Waffen und Werkzeuge, zu begegnen und die dabei gewonnenen Erfahrungen in der Gemeinschaft zu sammeln und weiterzugeben. Diese Fähigkeit machte die Gattung Mensch zu besonderen Tieren. Damit nicht genug, irgendwann begannen sie, die Umwelt selbst so zu verändern, dass sie aus ihr einen wachsenden Nutzen ziehen konnten. Mit dieser Fähigkeit schlugen die Menschen ein neues Kapitel im Buch der Naturgeschichte auf. Sie wurden zu „modernen“ Menschen.

Aus der Fähigkeit zur Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen erwächst die Verantwortung, dies nur dergestalt zu tun, dass die Grundlagen des Überlebens langfristig erhalten bleiben. Solange die Menschen als Jäger und Sammler ihr Überleben in direkter Auseinandersetzung mit der Natur sichern mussten, war diese Verantwortung immanenter Bestandteil des Daseins. Das Sesshaftwerden der Menschen veränderte vieles. Nicht nur mit Ackerbau und Viehzucht, auch das Handwerk entwickelte sich. Die erzeugten Dinge wurden zu Waren, denen ein unterschiedlicher Wert zugemessen wurde. Der unterschiedliche Wert der Dinge schlug sich bald schon im Prestige ihrer Eigentümer nieder. Es entstand eine soziale Differenzierung, die sich mehr und mehr verfestigte. Der gemeinsame Kampf in und mit der Natur für das Überleben aller mutierte zu einem Kampf um die Verteilung der Güter. Dieser mit dem Sesshaftwerden verbundene grundlegende Wandel im Zusammenleben wird als Neolithische Revolution bezeichnet.

Mit der Neolithischen Revolution begannen Entwicklungen, die Schritt für Schritt zur Emanzipation der Menschen von den Launen der Natur führten. Ihre zunehmende Beherrschung ließ jedoch vielerorts das ursprüngliche Wissen über das Einseins mit ihr verkümmern. Das gilt vor allem für die Städter, die nicht mehr direkt mit der Erzeugung ihrer Lebensmittel befasst waren. Allerdings bildeten die Bauern noch lange Zeit die größte Gruppe in der Gesellschaft, was sich erst mit der Industrialisierung grundlegend änderte. Sie führte auch zur unangefochtenen Dominanz der Warenwirtschaft, die nun nicht nur die Beziehungen in der Gesellschaft sondern auch das Verhältnis der Menschen zur Natur beherrschte. Wiederum hatten sich also grundlegende Wandlungen im Zusammenleben der Menschen vollzogen. In der ersten Phase war diese Revolution mit einer Verelendung großer Teile der Gesellschaft und dem Raubbau an der Natur verbunden. Erst Schritt für Schritt, meist in Folge von Krisen und anderer Katastrophen, wurde deutlich, dass die Sorge um die Gemeinschaft wie auch um die natürlichen Lebensgrundlagen keine großherzige Tat, sondern Voraussetzung für das Überleben ist. Unter den Bedingungen der Warenwirtschaft kann das nur heißen, dass die in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten vollumfänglich in die Produkte und Dienstleistungen einfließen müssten.

zuletzt geändert: 10.10.2019

1) Wikipedia, Stichwort Revolution

2) Wikipedia, Stichwort Evolution