Das Abenteuer, das da „Leben“ heißt, hatte nun bereits einige Meilensteine hinter sich gelassen. Eine große Vielfalt an Einzellern mit teilweise erstaunlichen Fähigkeiten war entstanden. Gemessen an dem, was an Entwicklung folgte, scheint das bis dahin erreichte trotzdem gering. Gemessen an der Zeit jedoch, die für diese Entwicklung erforderlich war, erscheint alles, was danach kam, eher als Zugabe. Was kam denn danach? Es folgte die große Zeit der Zellverbünde. Denn genau genommen, gibt es nur zwei Grundmuster des Lebens – Einzeller und Zellverbünde. Zellverbünde sind dadurch gekennzeichnet, dass sich mehrere Zellen zu einem Ganzen zusammenfinden. Die Art der Verbindung zwischen den Zellen ist in diesen Verbünden höchst unterschiedlich, man kann sie jedoch den drei grundlegenden Typen zuordnen.
Da ist die Fusion. Fusionen scheinen auf den ersten Blick für Zellverbünde von geringer Bedeutung zu sein. Dieser Schein trügt, denn sie haben ihr wohl bedeutenstes Existenz- und Entwicklungsproblem, die ausreichende Energieversorgung, offensichtlich durch Fusion gelöst. In der einen Variante (Flora) nahmen sie eine Cyanobakterie in die Zelle auf, um auf diese Weise die von ihr hervorgebrachte Photosynthese für die eigene Energiegewinnung zu nutzen. In der anderen Variante (Fauna) wurde eine der Bakterien in die Zelle integriert, die die Fähigkeit zur Aufnahme von Sauerstoff für die Verbrennung von Kohlenstoffverbindungen entwickelt hatten, um auf diese Weise die benötigte Energie zu erhalten. Mit anderen Worten, die Fusion von Zellen, speziell die Integration von Energieproduzenten in größere Zellen, schuf die Basis, von der aus sich das Leben entfaltete.
Dann ist da die Konglomeration. Sie kann man wohl als die Urform der Zellverbünde bezeichnen. Die Einzeller existierten eben nicht jeder für sich allein, sie bildeten von Anfang an Gruppen, das heißt mehr oder weniger lose Gemeinschaften. Diese Kolonien bestanden nicht nur aus gleichartigen Einzellern, sie duldeten auch andere in ihrer Mitte. Voraussetzung war, dass sie dem Verbund nicht schadeten, ja dass sie ihm vielleicht sogar auf die eine oder andere Weise nützlich waren. Auf dieser Basis konnte sich im Verbund eine Arbeitsteilung, das heißt, eine Spezialisierung der beteiligten Zellen auf bestimmte Aufgaben, entwickeln. Die daraus erwachsende Kooperation der Zellen schuf die Voraussetzung für die Herausbildung komplexer Lebewesen. Im Unterschied zu den einfachen Zellverbünden, in denen jede Zelle für sich existenzfähig bleibt, stellen komplexe Lebewesen ein einheitliches Ganzes dar, in dem die Zellen allein nicht mehr existenzfähig sind. Diese Organismen, die wir in Pflanzen und Tiere unterteilen, können als neue Qualität von Leben und damit auch als neue Qualität von Strukturen begriffen werden.
Das herausragende Merkmal der Pflanzen besteht darin, dass sie in der Lage sind, mit Hilfe des Sonnenlichts Stoffe zu synthetisieren, aus denen sie ihren Energiebedarf, das heißt den Energiebedarf aller am Verbund Pflanze beteiligten Zellen, decken. Beinahe alle Zellen der Pflanze sind in der einen oder anderen Weise an der Lösung dieser Aufgabe beteiligt. Im Laufe der Evolution wurden die Pflanzen größer. Die Großen waren nicht nur durch eine höhere Zahl von Zellen gekennzeichnet, auch die Vielfalt der Zellen, die sich aus ihrer Spezialisierung im Gesamtorganismus ergab, nahm zu. Die spezialisierten Zellen schlossen sich wiederum mit anderen zusammen, um gemeinsam bestimmte Aufgaben für den Gesamtorganismus wahrzunehmen. Man kann diese inneren Kooperationsverbünde als Organe ansehen, zu denen zum Beispiel Blätter, Blüten, Wurzeln und Triebe zählen. Die meisten dieser Organe müssen eine Vielzahl von Aufgaben übernehmen. In einem Blatt ist zum Beispiel nicht nur Chlorophyll für die Photosynthese vorzuhalten, auch Leitungen für die Wasserversorgung sowie Ventile für den Gasaustausch sind erforderlich. Darüber hinaus müssen die produzierten Zucker, aber auch deren Vorstufen und Folgeprodukte gespeichert beziehungsweise weitergeleitet werden. Außerdem braucht das Blatt eine Schutzschicht, eine Befestigung am Pflanzenkörper und anderes mehr. Es ist als Teil der Pflanze also selbst ein komplexes Ganzes.
Auf die gesamte Pflanze übertragen heißt das, sie besteht aus spezialisierten Zellverbünden, von denen jeder besondere Aufgaben für den Erhalt des Ganzen übernimmt. Damit dieses komplexe Zusammenwirken funktioniert, müssen die beteiligten Zellen und Organe irgendwie miteinander kommunizieren. Nehmen wir die Wasserversorgung eines Baumes als Beispiel. Die Zellen, die die Wasserleitungen bilden, durchziehen ihn von den Wurzeln bis zu den Blättern. Bei starker Sonneneinstrahlung kann die Pflanze die Photosynthese intensivieren, wodurch sich der Wasserbedarf in den Blättern erhöht. Durch die anspringende Photosynthese wird aber auch der Gasaustausch angekurbelt, so dass der Sog in den Wasserleitungen größer wird und mehr Wasser nach oben gepumpt werden kann. Ein sich selbst regulierendes System entsteht, bei dem die Reaktionskette nicht nur als Prozess physischer Veränderungen zu verstehen ist, sondern auch als ein Prozess, mit dem Informationen über Veränderungen in den äußeren Bedingungen innerhalb der Pflanze transportiert werden.
Es könnte allerdings sein, dass der steigende Wasserbedarf nicht befriedigt werden kann, weil die Wurzeln des Baumes im Trockenen stehen. Die Wurzeln müssten dann veranlasst werden, sich stärker zu verzweigen oder tiefer ins Erdreich vorzustoßen, um zusätzliche Ressourcen zu erschließen. Dazu ist ein Signal erforderlich, das, vom Wassermangel in den Blättern ausgelöst, zu den Wurzeln transportiert wird, um dort eine im Erbgut angelegte Wachstumsreaktion in Gang zu setzen. Im Unterschied zu dem vorher betrachteten Regelsystem, das auf einer direkten Folge von Wirkung und Anpassung basierte, ist jetzt eine Distanz zwischen den Akteuren, zwischen dem in den Blättern registrierten Wassermangel und der notwendigen Reaktion der Wurzeln, zu überwinden. Dafür wird ein Mittler benötigt, der einerseits die Nachricht vom Wassermangel weiterträgt und der andererseits das Wachstum der Wurzeln anregen kann. Da unsere Welt aus Strukturen und Bewegungen besteht, kommen auch nur Strukturen oder Bewegungen, das heißt Moleküle oder Energie, als solche Mittler in Frage. Pflanzen nutzen vor allem die erste Variante, das heißt Stoffe, die eine spezielle Außenwirkung besitzen, mit der sie beim Adressaten die gewünschte Reaktion hervorrufen. Solcherart Botenstoffe haben sich im Laufe der Evolution immer wieder als zuverlässig erwiesen. Ihr Nachteil besteht darin, dass sich ihr Transport durch den Organismus relativ langsam vollzieht. Außerdem kann jeder Botenstoff nur für jeweils ein Signal eingesetzt werden, was die Flexibilität des Systems begrenzt. Für Pflanzen, die an Ort und Stelle verharren, sind diese Einschränkungen nicht weiter problematisch, für Tiere, die sich bewegen müssen, um ausreichend Nahrung zu finden, sind Schnelligkeit und Flexibilität jedoch meist überlebenswichtig.
Schneller als Botenstoffe lässt sich Energie transportieren, zumindest, wenn sie auf speziellen Bahnen durch den Organismus geleitet wird. Die Weitergabe und Verarbeitung von Informationen mittels elektrischer Impulse wurde zum Merkmal der Tiere. Man kann sie ebenfalls als Meilenstein in der Entwicklung des Lebens betrachten. Durch die Nutzung elektrischer Impulse waren die Botenstoffe jedoch nicht überflüssig geworden, sie wurden weiterhin für die Umsetzung einer Information in eine Reaktion benötigt. Es entwickelte sich ein zweistufiges System, einerseits aus Zellen bestehend, die die von den Sinnesorganen generierten elektrischen Impulse weiterleiten, und andererseits auf Botenstoffe setzend, die von den Empfängern dieser Impulse ausgeschüttet werden, um eine bestimmte Reaktion zu bewirken. Die Zellen, die auf die Weiterleitung elektrischer Impulse spezialisiert sind, nennen wir Nervenzellen. Sie besitzen die Fähigkeit, sich miteinander zu verknüpfen und neuronale Netze zu bilden.
Mit Hilfe der neuronalen Netze, die den ganzen Körper durchziehen, können Informationen schnell und planmäßig verteilt werden, wodurch ein komplexes Verhalten, an dem mehrere Organe oder Zellen beteiligt sind, möglich wird. Grundlage ist die direkte Verknüpfung von Sinneszellen mit neuronalen Netzen, die ihrerseits bestimmte Verhaltens- respektive Bewegungsmuster verkörpern. Diese Verknüpfungen, genauso wie die Strukturen der neuronalen Netze, werden mit dem Erbgut weitergegeben. Angefangen von den Quallen, über viele andere Meeresbewohner bis hin zu Krebsen und Insekten hat diese Art der direkten Umsetzung von Informationen in ein vorgeprägtes Verhalten unzähligen Arten das Überleben bis in unsere Tage hinein gesichert. Der wohl wichtigste Nachteil dieses insgesamt bewährten Systems besteht darin, dass zwar die kleinteiligen Bewegungsmuster flexibel den Gegebenheiten angepasst werden können, die grundlegenden Verhaltensweisen aber alternativlos bleiben. Eine Anpassung des Verhaltens an die Besonderheiten einer Situation ist nicht möglich.
Die Wirbeltiere erschlossen sich in dieser Hinsicht neue Möglichkeiten. Der Schlüssel ihres Erfolgs war die Konzentration der Informationsverarbeitung in einer kleinen Einheit, einem Gehirn. In diesen Gehirnen entwickelten sich abgegrenzte, auf bestimmte Aufgaben spezialisierte Bereiche. Das Stammhirn steuert die „internen“ Lebensprozesse, das heißt, es sorgt dafür, dass der Organismus störungsfrei funktioniert, vorausgesetzt Energieträger, Wasser und alle anderen lebenswichtigen Stoffe stehen ausreichend zur Verfügung. Ist dies nicht der Fall, dann wird dem Großhirn signalisiert, dass die Versorgung nunmehr oberste Priorität erlangen muss. Dazu muss sich das Tier in Bewegung setzen. Damit die Aktion erfolgreich sein kann, braucht die Bewegung ein Ziel, für dessen Bestimmung Informationen aus der Umwelt gesammelt und verarbeitet werden müssen. Darüber hinaus ist eine Entscheidung erforderlich, welches der entstandenen alternativen Verhaltensmuster eingesetzt werden soll. Das Großhirn wurde auf diese Weise zu einer Zentrale, in der nicht nur die verfügbaren Informationen zusammenlaufen, sondern in der auch Entscheidungen zu treffen waren.
Grundlage aller Entscheidungen sind Informationen. Sie wurden zu einem Gut, das für komplexe Organismen immer größere Bedeutung erlangte. Vor diesem Hintergrund eintickelten sich die Sensorzellen zu komplexen Organen weiter, die in der Lage waren, eine große Vielfalt an Informationen zu liefern. Die gewonnenen Informationen mussten allerdings auch verarbeitet, das heißt, bewertet und nach Prioritäten geordnet werden, bevor eine Entscheidung möglich war. Da sich die Lage permanent verändern konnte, war Schnelligkeit geboten, die wiederum nur zu erreichen war, wenn frühere Ereignisse als Erfahrungen in die Informationsverarbeitung einfließen konnten. Es ist kein Geheimnis, dass die Evolution auch diese Aufgabe meisterte. Durch die Vermehrung der im Gehirn konzentrierten Neuronen und deren vielfältige Verknüpfung entstand ein Speicher, ein Gedächtnis, in dem Erfahrungen vorgehalten werden konnten. Mit dieser Fähigkeit ausgestattet, konnte das Verhalten immer besser den sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden.
Eine der wichtigsten von den Menschen hervorgebrachten Errungenschaften ist die Sprache, die zu ihrem bevorzugten Medium für die Verbreitung von Informationen wurde. Mit der Sprache ist es auch möglich, Gedächtnisinhalte, das heißt Erfahrungen und Wissen, gezielt aufzurufen. Außerdem lässt sie sich nutzen, um eigenständig Informationen zu generieren und weiterzugeben, das heißt, Entscheidungen anderer zu beeinflussen. Damit wurde dem Zusammenhang von Wirkung und Anpassung ein weiterer Aspekt hinzugefügt. Darüber hinaus ersannen die Menschen Werkzeuge, die ihnen neue Handlungsalternativen eröffneten. Später kamen Maschinen hinzu, die sie bei kräftezehrenden Arbeiten entlasteten und ihr Leben reicher an Gütern machten. Die Kehrseite dieser Entwicklung war, dass mit den Maschinen auch eine Entfremdung der Menschen von ihren natürlichen Lebensgrundlagen und von den das Überleben sichernden Gemeinschaften einsetzte. Der eigentliche Sinn von Tätigkeit, die Auseinandersetzung mit der Umwelt zur Erhaltung des eigenen Lebens und zur Sicherung des Überlebens der Gemeinschaft, war für den einzelnen kaum mehr als solcher erfahrbar. Maschinen wurden bald auch zur Speicherung von Informationen und zur Vernetzung von Informationsflüssen verwendet, so dass Wissen und Erfahrungen in einem bis dahin ungekannten Umfang allgemein verfügbar wurden. Aber auch dieser Prozess hatte eine Kehrseite, denn ein Teil des Wissens, das eigene Leben betreffend, eigneten sich andere an, um daraus persönlichen Vorteil zu ziehen. Die egoistischen Interessen einzelner durch Regeln mit den Interessen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen, wurde immer mehr zur Herausforderung, wollte man das eigentliche Ziel, die wachsende Unabhängigkeit der Menschen von den in ihrer Lebensumwelt herrschenden Zwängen, nicht aus den Augen verlieren. Darüber hinaus wurde immer deutlicher, dass die erstrebte Unabhängigkeit von den Zwängen der Lebensumwelt einen Preis hatte, den Preis, Verantwortung für deren Erhalt übernehmen zu müssen.
zuletzt geändert: 11.09.2019