Wie alles begann

Bisher haben wir Widersprüche als Momentaufnahme betrachtet beziehungsweise untersucht. Ein Widerspruch wird jedoch sowohl von inneren Wechselwirkungen als auch durch äußere Faktoren beeinflusst, so dass er Veränderungen beziehungsweise einer Entwicklung unterliegt. In diesem Zusammenhang wird gern von „Entfaltung“ des Widerspruchs gesprochen, wohl, weil sich der Begriff „Entwicklung“ durch vielfältigen Gebrauch vom eigentlichen Wortsinn des „Auswickelns“ entfernt hat. Der Ausdruck „Entfaltung“ besitzt noch eine gewisse Anschaulichkeit, man kann ihn zum Beispiel mit dem Aufblühen einer Blume in Verbindung bringen. Dieser Prozess startet mit der Knospe, also einem Sproß der Pflanze. Die Knospe enthält bereits alles, was die Blüte einmal ausmachen wird, trotzdem lässt sie deren spätere Pracht kaum erahnen. Erst mit ihrer Entfaltung zur Blüte wird sie diese offenbaren. Im Punkt größter Entfaltung schwingt jedoch bereits das Ende mit. Der Zerfall dieses Sprosses kündigt sich an. Vielleicht ist ja ein Same gezeugt worden, aus dem eine Pflanze keimt, die neue Blüten hervorbringt. Dieser oder ein ähnlicher Vergleich kann den Prozess, um den es geht, veranschaulichen, er kann die Abstraktion aber nicht ersetzen, da ein Beispiel immer Besonderheiten beinhaltet, die nicht allgemeingültig sind. Doch nun weg von blumigen Vergleichen hin zur abstrakten Pracht eines grundlegenden Widerspruchs.

Der Grundwiderspruch allen Seins ist, nach meiner Überzeugung, der Gegensatz von Struktur und Bewegung. Die erste Frage, die sich in Bezug auf die Entfaltung dieses Widerspruchs stellt, ist die nach seinem Ursprung. Ausgangspunkt allen Seins, so wie wir es kennen, war der Urknall, mit dem ein in kaum vorstellbarer Weise komprimierter Masseklumpen auseinandergesprengt wurde und sich dabei in Energie verwandelte. Unmengen von Energiepartikeln wirbelten in chaotischer Weise durcheinander, wobei sie ständig miteinander kollidierten. Solche Zusammenstöße führten meist dazu, dass die Partikel voneinanderweg geschleudert wurden, einige blieben aber auch aneinander kleben. Im allgemeinen Chaos mit seinen nicht enden wollenden Kollisionen konnten solche Verbindungen allerdings nicht lange bestehen. Mit dem Urknall war jedoch nicht nur der Masseklumpen gesprengt worden, es wurde auch ein Expansionsimpuls gesetzt, durch den sich der Raum permanent vergrößerte. Die Energiepartikel bekamen mehr Platz für ihre Bewegungen, was die Zahl der Kollisionen verringerte. Einmal entstandene Verbindungen konnten nun länger überdauern. Mit den Verbindungen reduzierte sich wiederum die Zahl der chaotischen Energiepartikel, was seinerseits zur Stabilierung der Situation beitrug. Nun konnten auch größere Strukturen entstehen und sich behaupten. Unzählige Atome, meist aus ein oder zwei Protonen, Elektronen und Neutronen bestehend, bildeten sich. Die Atome waren jedoch nicht gleichmäßig im Raum verteilt. Dort, wo sie sich häuften, entstand eine eigene Dynamik, entstanden Kräfte, die zur Formung weitaus größerer Gebilde führten. Galaxien, Sterne und andere Himmelskörper entstanden. Auf einigen dieser Himmelskörper bildeten sich Bedingungen heraus, die Verbindungen zwischen den Atomen und Molekülen begünstigten, so dass dort eine große stoffliche Vielfalt entstehen konnte.

Die Vielfalt der Stoffe war schon durch die unterschiedlichen Bausteine, die sich da vereinten, bedingt, darüber hinaus bildeten sich unterschiedlich geartete Verbindungen zwischen den Bausteinen heraus. Die Frage, ob sich die Bausteine dieser Welt auf einige Grundbausteine zurückführen lassen, haben wir bereits an anderer Stelle untersucht. Es bleibt die Frage, ob sich auch die Vielfalt der Verbindungen zwischen ihnen in einige grundlegende Typen zusammenfassen lässt. Diese Typen sollten bereits in den Grundstrukturen der Materie angelegt sein.

Beginnen wir mit den Protonen, den ersten stabilen Verbindungen überhaupt, ohne deren strukturbildende Kraft kein Atom je entstanden wäre. Protonen bestehen aus drei Quarks, die eine unlösliche Verbindung eingegangen sind, bei der sie ihre Eigenschaften zugunsten des Ganzen weitgehend aufgegeben haben. Sie sind fusioniert. Das heißt, die unterschiedliche Wirkung, die von jedem einzelnen Quark ausgehen würde, ist fast vollständig in der ganzheitlichen Wirkung des Protons aufgegangen. In einem Atom sind meist mehrere Protonen vereint, die gemeinsam mit mehreren Neutronen den Atomkern bilden. Diese Protonen und Neutronen fusionieren nicht, weder miteinander noch untereinander, sie bleiben als eigenständige Strukturbestandteile im Kern erhalten. Immerhin ergänzen sich ihre Wirkungen auf Dritte, so dass der Kern als Ganzes mit speziellen Eigenschaften in Erscheinung tritt. Mir fehlt ein Begriff für diese Art der Verbindung von mehreren sich ergänzenden Bestandteilen. Vielleicht könnte man sagen, sie bilden ein Konglomerat, sie konglomerieren. Das Atom besteht aber nicht nur aus dem Kern. Zum Atom gehören auch Elektronen, die das dynamische Moment der Struktur ausmachen. Zusammen mit den Protonen schaffen sie ein energetisches Gleichgewicht, das sowohl Stabilität als auch Veränderung gewährleistet. Weder Proton noch Elektron geben jedoch ihre spezifischen Merkmale auf. Das Proton hält mit seiner Sogwirkung das Elektron in seinem Bann, während das Elektron mit der von seiner Bewegung ausgehenden Dynamik dem Ganzen Flexibilität verleiht. Das heißt, die beiden Strukturelemente wirken nicht dadurch zusammen, dass sie sich als ähnliche Bausteine ergänzen, sondern dadurch, dass sie mit alternierenden Eigenschaften ein neuartiges Ganzes hervorbringen. Man könnte vielleicht sagen, die Teile kooperieren und verleihen auf diese Weise dem Ganzen eine spezifische Außenwirkung. Zu Fusion und Konglomeration kommt die Kooperation als dritte Variante hinzu.

Doch zurück zum Makrokosmos. Es war ein Universum mit unüberschaubar vielen Objekten entstanden. Auf einigen von ihnen hatte sich ein ebenso unüberschaubarer Kosmos von Elementen und deren Verbindungen gebildet. Damit war die Strukturierung des Universums im wesentlichen vollendet. Da sich kein Massemittelpunkt gebildet hatte, der das Universum zusammenhielt, dehnte und dehnt es sich jedoch immer weiter aus. Der Preis dieser Ausdehnung war und ist die Auflösung von Strukturen. So gesehen, hatte die Strukturierung des Universums bereits kurz nach seiner Entstehung ihren Höhepunkt erreicht. Von nun an ging´s bergab, allerdings nur in quantitativer Hinsicht, denn in einigen Gegenden des Weltalls waren Bedingungen entstanden, die die Bildung von Strukturen mit völlig neuen Eigenschaften ermöglichten. Zu diesen Gegenden zählt unser Sonnensystem und hier speziell die Erde.

Für die Entwicklung auf Erden erlangten einige große Moleküle besondere Bedeutung. Ihre Spezifik bestand darin, dass sie nicht nur als Ganzes eine Außenwirkung besaßen, sondern dass auch ihre Teile auf die Außenwelt wirkten, und dies recht unterschiedlich. In einigen Fällen mögen diese unterschiedlichen Wirkungen einander behindert haben, dann war diesen Molekülen wahrscheinlich kein langes Dasein beschieden. Andere zeichneten sich dadurch aus, dass sich die Wirkungen ihrer Teile ergänzten und dem Ganzen auf diese Weise zu größerer Widerstandskraft verhalfen. War das Molekül zum Beispiel in der Lage, Schäden, die aus äußeren Einwirkungen resultierten, zu reparieren, dann besaß es einen existenzsichernden Vorteil. Nukleinsäuren haben diese Fähigkeit. Von den Basen, den Hauptbestandteilen der Nukleinsäuren, gehen Wirkungen aus, die sie immer wieder zueinander hinziehen, die zur Basenpaarung führen. Wird nun eine Base durch äußere Faktoren aus dem Molekülverbund herausgesprengt oder zerstört, dann hilft diese Fähigkeit dem Molekül, sich wieder zu vervollständigen.

Die Wirkungen, die von einzelnen Abschnitten des Moleküls ausgehen, können aber auch Schäden am eigenen Molekülverbund verursachen. Die Ribonukleinsäure (RNA) entfaltet eine derartige selbstzerstörende Wirkung. Was unter anderen Umständen einem Desaster gleichgekommen wäre, entpuppte sich im Zusammenwirken mit der Basenpaarung als furioses Kombinationsspiel. Die durch „interne“ Wirkungen getrennten Teile wurden nämlich mit Hilfe der Basenpaarung wieder komplettiert, so dass zwei baugleiche Moleküle entstanden. Das Molekül hatte sich vermehrt. Die aggressiven Umweltbedingungen ließen jedoch eine dauerhafte Existenz dieser großartigen Moleküle nicht zu. Wollten sie sich behaupten, brauchten sie einen Schutz, eine Hülle, mit der sie sich nach außen abschirmen konnten, die aber trotzdem den Austausch mit der Außenwelt erlaubte. Irgendwann fanden sich Stoffe, die eine solche Hülle hervorbrachten. Zusammen mit dem vermehrungsfähigen Molekül bildete diese Hülle nun ein neuartiges Ganzes, das sich durch den erreichten Grad der Unabhängigkeit von äußeren Zwängen abhob. Wir bezeichnen dieses neuartige Ganze in Form von relativ eigenständigen Zellen als „Leben“.

Die Zellen brachten immer neue Fähigkeiten hervor, so dass mit der Zeit eine Vielfalt einzelliger Lebewesen entstand. Bis sich aus den ersten einzelligen Lebewesen komplexe Organismen entwickelten, war es jedoch noch ein weiter Weg. Erst einmal mussten einige existenzielle Probleme gelöst werden. So hing die Vermehrung der Zellen davon ab, dass sowohl Energie als auch Baustoffe in ausreichender Menge und in der erforderlichen Spezifikation zur Verfügung standen. Letzteres war bei den Eiweißen schon durch die Vielfalt, in der sie vorkamen, eher selten der Fall. Die Bausteine der Eiweiße, die Basen, waren wiederum in großer Zahl in der Umwelt vorhanden. Die Lösung des Problems konnte also nur darin bestehen, dass die Zelle die speziellen, für sie notwendigen Eiweiße, selbst aus den Basen synthetisierte. Es zeigte sich jedoch, dass die RNA mit der Synthese komplexer Eiweiße überfordert war. Sie konnte immerhin die Bildung einfacherer Eiweiße mit spezifischen Außenwirkungen herbeiführen. Diese Eiweiße mussten dann „nur noch“ derart kombiniert werden, dass in der Summe ihrer Wirkungen die erforderlichen komplexen Verbindungen entstanden. Irgendwann war auch dies vollbracht. Wieviel „Zufall“ in diesem Erfolg steckt, lässt sich nur schwer ermessen, jedenfalls verstrichen kaum vorstellbar lange Zeiträume, bis dieser Schritt gelang. Die Besonderheit bestand darin, dass sich mehrere aufeinander aufbauende Prozesse aneinanderreihen mussten, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Die im Zwischenschritt synthetisierten einfacheren Eiweiße wirken dabei wie Werkzeuge, die die abschließende Synthese unerlässlich sind. Sie sind gleichzeitig Boten der RNA, da sie Informationen zum Aufbau der Zelle weitertragen.

Mit dieser grandiosen Innovation hätte einer beschleunigten Vermehrung eigentlich nichts mehr im Wege stehen sollen, wäre da nicht das noch immer nicht ausreichend gelöste Versorgungsproblem gewesen. Die Zelle war ja nach wie vor von den örtlichen Gegebenheiten abhängig, davon, dass dort, wo sie sich gerade befand, die erforderlichen Baustoffe und Energiequellen vorhanden waren. Gingen diese zur Neige, war Schluss mit lustig. Die Zerstörung der bereits existierenden Zellen war dann nur eine Frage der Zeit. Vielleicht half ihr ein Windstoß, eine Welle oder ein anderer Zufall, der sie davontraug, so dass sie an anderer Stelle fündig werden konnte. Diese Abhängigkeit von Zufällen verhinderte jedoch eine dauerhafte Vermehrung. Die Zelle musste irgendwie in die Lage kommen, eigenständig neue Lebensräume zu erreichen, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, wollte sie diese Abhängigkeit überwinden. Einige Zellen bildeten Ausstülpungen ihrer Hülle, mit denen sie selbst kleine Wellen erzeugten, auf denen sie davonschwebten. Das konnte die Lösung sein. Für die Erzeugung von derartigen Wellen braucht man jedoch Energie, die im Bedarfsfall sofort verfügbar, das heißt, in der Zelle gespeichert sein musste. Nun kann man Energie nicht speichern, sie ist ein flüchtiges Moment. Genauer gesagt, freie Energie kann nicht gespeichert werden, Energie, die in Strukturen gebunden ist, schon. Die Zelle musste also energieträchtige Strukturen von außen aufnehmen oder solcherart Stoffe selbst produzieren, und sie musste in die Lage kommen, die gespeicherten Energieträger bei Bedarf aufzuspalten, das heißt, die in ihnen gebundene Energie freizusetzen.

Schließlich wurden auch diese Probleme gelöst. Die Zelle verfügte nun über Energie, die sie in Bewegung umsetzen konnte. Es blieb die Frage, wie man den Zeitpunkt bestimmen sollte, an dem der Einsatz dieses raren Gutes sinnvoll wäre? Die Hülle der Einzeller hatte die Fähigkeit entwickelt, nur die Stoffe, die im Innern benötigt wurden, hineinzulassen. Für die Entscheidung, ob Energie für einen Ortswechsel eingesetzt werden sollte, musste dieses Schleusenprinzip mit einem Informationsprozess verbunden werden. Die Zelle musste erkennen, ob in ihrer Umgebung Nahrung vorhanden war oder nicht, und diese Information in ihrem Verhalten umsetzen. Sofern die Zelle feststellte, dass in der unmittelbaren Umgebung Nahrung vorhanden war, konnte sie an Ort und Stelle verharren und diese Nahrung aufnehmen. Besagte die Information jedoch, dass Nahrung knapp würde, dann galt es, Energiereserven zu mobilisieren und sich einen anderen Platz mit neuen Chancen zu suchen. Die daraus hervorgegangene Fähigkeit, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen und in alternative Handlungen umzusetzen, erwies sich als bahnbrechend. Sie wurde zum Meilenstein auf dem Weg in eine größer werdende Unabhängigkeit von den Zwängen dieser Welt.

zuletzt geändert: 11.09.2019