Raum und Zeit

In einer astronomischen Beobachtungsstation hoch oben in den Anden sucht man das Universum systematisch nach auffälligen Ereignissen ab. Nehmen wir an, dabei werden eines Tages zwei Sternenexplosionen in unterschiedlichen Gegenden des Weltraumes registriert. Die Frage ist, ob man aus der gleichzeitigen Beobachtung der Ereignisse schließen kann, dass sie auch gleichzeitig stattgefunden haben? Die eine Explosion ereignete sich in einer Entfernung von einhunderttausend Lichtjahren, die andere von fünfzigtausend Lichtjahren. Das heißt, in dem einen Fall brauchten die Strahlen, die uns von der Sternenexplosion berichten, einhunderttausend Jahre bis sie unser Teleskop erreichten, in dem anderen Fall waren es fünfzigtausend Jahre. Anders gesagt, die beiden Explosionen fanden mit einem riesigen zeitlichen Abstand statt, obwohl sie auf der Erde zur gleichen Zeit beobachtet wurden.

Man stelle sich nun vor, es gab da noch jemanden, der Sternenexplosionen beobachtete. Er befand sich allerdings auf einem anderen Planeten, irgendwo in den Tiefen des Universums. Von dessen Standpunkt aus war die Entfernung zur Explosion A zwar mit der Entfernung der Erde zu dieser Explosion vergleichbar, aber seine Entfernung zur Explosion B war um zwanzigtausend Lichtjahre größer. Er konnte daher nur die Explosion A registrieren, und dies ungefähr zur gleichen Zeit wie auf der Erde. Die Strahlung von Explosion B wird irgendwann auf seinem Planeten eintreffen, wenn er und seine Nachfahren vermutlich längst nicht mehr existieren. Falls er eine Nachricht zur Erde gesandt hat, um seine Beobachtung zur Explosion A mitzuteilen, dann wird das beschriebene Ereignis für die bei der Ankunft der Nachricht lebenden Erdenbewohner in einer kaum mehr nachvollziehbaren Vorzeit gewesen sein. Die großen räumlichen Entfernungen des Alls führen alle irdischen Vorstellungen von zeitlichen Abfolgen ad absurdum.

In welchem Verhältnis stehen also Raum und Zeit zueinander?

Wir gehen in unseren Überlegungen davon aus, dass die Welt aus Strukturen und deren Bewegungen besteht, aus nichts sonst. Was sind dann aber Raum und Zeit? Die Strukturen brauchen für ihre Existenz Raum. So gesehen, ist Raum eine Existenzvoraussetzung der Strukturen. Damit impliziert Raum etwas, das vorhanden ist. Genauso, wie jede Struktur Bestandteil einer übergeordneten Struktur ist, so ist auch ihr Raum Bestandteil eines übergeordneten Raumes. Der Raum, den eine Pflanze einnimmt, ist Bestandteil des Raumes der Wiese, auf der sie wächst. Der Raum der Wiese ist Bestandteil des Raumes der Stadt, in dem die Wiese liegt. Der Raum der Stadt ist wiederum Bestandteil eines größeren Raumes und so weiter. Letztlich gehören alle irdischen Strukturen zum Erdenraum oder, wenn man den Bogen weiter spannen will, zu dem einen universellen Raum, dem Universum.

Auf der anderen Seite existieren Strukturen nur in Bewegung. Bewegungen sind räumliche Veränderungen in der Zeit. Man kann also sagen, Zeit ist die Existenzweise der Bewegungen. Sie bezieht ihren Sinn daraus, dass sich in ihrem Verlauf eine Bewegung, eine Veränderung vollzieht. Jede Bewegung hat ihre Zeit, die wiederum Bestandteil der Zeit einer übergeordneten Struktur respektive Bewegung ist. Die Zeit, in der unsere Pflanze existiert, ist Bestandteil der Zeit, in der die Wiese besteht. Verschwindet die Wiese, weil eine Siedlung gebaut werden soll, dann ist auch die Zeit der Pflanze abrupt beendet. Sollte die Erde von einem großen Asteroiden getroffen werden, dann wäre wohl nicht nur die Zeit der Pflanze und der Wiese vorüber. Ein derartiges Ereignis könnte das Ende von Raum und Zeit unseres Planeten mit allem, was darauf ist, bedeuten.

Der Gedanke an solch ein Ende ist unerfreulich, schauen wir lieber auf den Anfang. Wie entstehen Raum und Zeit? Raum und Zeit entstehen mit den Strukturen. Aus einem Keim wächst eine Pflanze. Dazu sind Wasser, Luft, Mineralien und vor allem Energie erforderlich. Mit ihrem Wachstum dehnt sich die Struktur „Pflanze“ aus, sie erobert Raum. Sie schafft sich Raum. Dann wird es Herbst, die Energie der Sonne sprudelt nicht mehr im Überfluss. Der Pflanze gehen die Lebensgrundlagen aus, sie verwelkt. Ihre Zeit neigt sich dem Ende entgegen. Sie stirbt ab. Der Raum, den sie einnahm, existiert zwar noch in Form der Wiese, als Raum der Pflanze ist er jedoch mit der Pflanze vergangen. Anders gesagt, die Pflanze schafft sich in der Zeit des Werdens ihren Raum, der mit ihrem Vergehen wieder verschwindet. Was für unsere Pflanze gilt, gilt auch für alle anderen Strukturen.

Wenn sich eine Struktur durch ihre Bewegung Raum schafft, dann muss auch die Umkehrung gelten, das heißt, dort, wo sie sich nicht bewegt, dort ist für sie kein Raum. Führt man einem Gas Energie zu, dann intensiviert sich die Bewegung seiner Moleküle. Das Gas dehnt sich aus, es schafft sich Raum. Man könnte einwenden, dass dieser Raum auch vorher vorhanden war, nur nicht mit dem Gas befüllt. Aber, genau das ist der Punkt. Für das Gas gibt es nur den Raum, in dem es sich gerade bewegt, was man auch daran erkennt, dass es nur mit Stoffen, die in diesem Raum vorhanden sind, reagieren kann. Alle Stoffe, die außerhalb seines Raumes sind, tangieren unser Gas nicht, führen zu keinerlei Reaktion. Was für unser Gas gilt, gilt auch für alle anderen Strukturen.

Genauso, wie es keine Strukturen ohne Bewegung gibt und wie keine Bewegung ohne eine Struktur, die sich bewegt, existieren kann, genauso gibt es keinen Raum ohne Strukturen, die sich bewegen und keine Zeit ohne Veränderungen. Schon aus diesem Grund sind weder ein absolutes Vakuum (Strukturlosigkeit) noch der absolute Nullpunkt (Bewegungslosigkeit) herstellbar beziehungsweise erreichbar.

Das Universum ist, soweit wir wissen, nicht Bestandteil einer noch größeren Struktur. Es selbst besteht aus Galaxen, Sonnensystemen und vielen anderen Teilen, die ihrerseits strukturiert, das heißt, aus kleineren Teilen aufgebaut sind. Letztlich besteht alles aus Energie, die zwar eine Partikelform annimmt, welche selbst aber nicht aus noch kleineren Bestandteilen aufgebaut ist. Doch wie ist das Universum entstanden? Nach einer weithin akzeptierten Theorie ist es Resultat eines Urknalls, durch den ein unglaublich komprimierter Masseklumpen in ein Meer sich chaotisch bewegender Energiepartikel verwandelt wurde. Der Raum, den der Masseklumpen eingenommen hatte, war vergleichsweise winzig. Mit dem Urknall dehnte er sich schlagartig aus. Außerdem setzte ein Expansionsprozess ein, der zur permanenten Vergrößerung des Raums, in dem sich die Energiepartikel bewegten, führte. Mit der Vergrößerung des Raums verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie miteinander kollidierten. Größere Strukturen konnten entstehen und sich behaupten. Ein Universum entstand, das aus verschiedenartigen Teilen aufgebaut war. Alle diese Strukturen, genauso wie ihre Teile, bewegen sich und generieren dabei Kräfte. Diese Kräfte begründen ein Wirkungsgefüge, das sich mit der Struktur, in der es entstand, verändert, ausbreitet und gegebenenfalls auch untergeht. Das heißt, nicht Kräfte breiten sich aus, sondern es sind die Strukturen, die samt den ihnen immanenten Bewegungen und Kräften entstehen, sich ausbreiten, verändern oder auch untergehen.

Die Veränderung eines Bestandteils im Wirkungsgefüge der Struktur hat Auswirkungen auf alle anderen Bestandteile wie auch für die Struktur als Ganzes. Da dieses Ganze Teil einer größeren Struktur ist, ist auch diese samt ihrer Bestandteile betroffen. Resultat ist eine Kaskade von Anpassungsprozessen, die, da sie Veränderungen beinhalten, jeweils weitere Anpassungen nachsichziehen. Wenn wir eine Veränderung registrieren, beobachten wir also nicht die Veränderung von Kräften, sondern die Reaktion respektive Anpassung der Betroffenen auf ein sich veränderndes Wirkungsgefüge. Nehmen wir ein Beispiel. Wenn wir Massen wiegen, dann bestimmen wir mit dem Gewicht nicht die Wirkungskraft der Gravitation, sondern wir vergleichen die unterschiedliche Reaktion der Massen auf die als gleichbleibend angenommene Kraft. Wenn wir das Gewicht von ein und derselben Masse am Äquator und am Pol messen, dann sind die ermittelten Unterschiede im Gewicht zwar auf Unterschiede in der Wirkungskraft der Gravitation zurückzuführen, mit unserer Messung bestimmen wir jedoch wiederum nicht die jeweilige Größe der Gravitation, sondern wir vergleichen die Reaktion unserer Masse hinsichtlich der Unterschiede der am Pol beziehungsweise am Äquator wirkenden Kraft. Führt man diesen Gedanken fort, dann gilt auch für  „Gravitationswellen“, dass man mit ihnen nicht die Veränderung einer Kraft registriert, sondern die Auswirkungen, die eine bestimmte Veränderung im Wirkungsgefüge des Universums, auf die Erde oder ein anderes Objekt im Universum hat. Aus dieser Veränderung lässt sich schlussforlgern, dass es eine Ursache, das heißt, eine gravierende Veränderung im Wirkungsgefüge des Universums gab, die zu zeitlich und räumlich differenzierten Anpassungsprozessen seiner Teile führte.

Sind unsere Überlegungen zum Verhältnis von Raum und Zeit auch für irdische Ereignisse von Bedeutung? Wenn man Blitze beobachtet, die zwei Kilometer entfernt niedergehen, dann hört man den dazugehörenden Donner mit einer zeitlichen Verzögerung, denn der Schall des Donners braucht einige Zeit, bis er den Beobachter erreicht. Aus der zeitlichen Differenz beider Beobachtungen kann man die Entfernung des Gewitters abschätzen. Dabei sollte man nicht übersehen, dass auch das Licht des Blitzes eine gewisse Zeit benötigt, um zum Beobachter zu gelangen. Selbst ein Beobachter vor Ort ist nicht Teil des Geschehens, das heißt, genau genommen, muss auch er die räumliche Distanz und damit eine zeitliche Abweichung zwischen Ereignis und Beobachtung berücksichtigen. Auf der Erde gilt demnach, genauso wie im Universum, dass die Ereignisse und deren Beobachtung nicht nur räumlich sondern auch zeitlich auseinanderfallen. Im Alltag kann man diesen Aspekt meist vernachlässigen, zumindest, wenn das äußerst schnelle Licht als Träger der Nachricht dient. Im Makrokosmos sieht das anders aus. Dort sind durch die großen räumlichen Distanzen das Ereignis und seine Beobachtung klar unterschiedene Dimensionen, die zwar einander bedingen, die aber keinesfalls gleichzusetzen sind.

Im Mikrokosmos tun sich ebenfalls Probleme auf, denn die Strukturen sind außerordentlich klein und in kaum vorstellbaren Geschwindigkeiten unterwegs. Das hat zur Folge, dass sich die Position und die Geschwindigkeit eines Elektrons nicht gleichzeitig exakt bestimmen lassen. Ebenso lässt sich der Abstand zweier Teilchen zueinander nicht ermitteln, da durch deren Dynamik jede Messung bereits im selben Augenblick hinfällig wäre. Halten wir also fest, weder im Mikrokosmos noch im Makrokosmos kann man die Lage von Strukturen im Raum oder ihre Geschwindigkeit, dass heißt ihre Bewegung in der Zeit, zweifelsfrei ermitteln. Jede Beobachtung eines Außenstehenden ist durch seine räumliche und damit zeitliche Distanz zum Ereignis beeinflusst. Unsere Alltagserfahrungen auf Erden sind demnach als Sonderfall zu verstehen, der nicht verallgemeinerungsfähig ist.

zuletzt geändert: 21.10.2019